Interview
Rainald Manthe
Rainald Manthe
- Soziologe und Autor. Nach Studium und Promotion in Duisburg-Essen, Bielefeld und Luzern baute er beim Berliner Thinktank Zentrum Liberale Moderne den Programmbereich „Liberale Demokratie“ auf und leitete ihn bis 2023. Zuvor war er bei der Jugendpresse Deutschland e. V. tätig. Seit 2024 steht er der Stiftung Bildung vor. Sein Buch „Demokratie fehlt Begegnung. Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts“ ist im August 2024 beim transcript Verlag erschienen.
Kneipen, Cafés, Dorfläden: Orte, an denen Menschen ins Gespräch kommen, sind seltener geworden. Was auf den ersten Blick nach Strukturwandel und verändertem Freizeitverhalten aussieht, betrifft das Fundament unserer Demokratie. Denn wo Begegnung fehlt, schwindet das Miteinander. Rainald Manthe, Autor des 2024 erschienenen Buches „Demokratie fehlt Begegnung“, erklärt im Interview, warum Alltagsorte, wie sie die Gastwelt (Tourismus, Hospitality, Foodservice und Freizeitwirtschaft) in großer Zahl bietet, unverzichtbar für gesellschaftlichen Zusammenhalt sind und was Kommunen, Staat und Wirtschaft tun können, um sie zu erhalten.
Herr Manthe, der Titel Ihres Buches lautet „Demokratie fehlt Begegnung: Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts“. Welche meinen Sie und warum geraten sie zunehmend unter Druck?
Fast alle Begegnungsorte sind in den letzten Jahrzehnten weniger geworden: Kneipen und Gasthäuser, Schwimmbäder und Bibliotheken, Kulturangebote für die breite Masse und mehr. Das ist eher eine Nebenfolge als ein geplanter Prozess. Drei Treiber sind dafür verantwortlich: Die Deutschen sind erstens individualistischer geworden, d.h. sie gestalten ihr Leben stärker nach ihren Vorstellungen und umgeben sich dadurch mit Menschen, die ihnen ähnlich sind. Dazu kommt, zweitens, der Rückzug des Staates vor allem aus freiwilligen kommunalen Aufgaben, gepaart mit einer Überforderung vieler Kommunen. Drittens wohnen die Menschen – mindestens in den Großstädten – stärker unter sich. Was fehlt, ist die Irritation der Begegnung mit Menschen, die ganz anders sind als man selbst.
Einige der Orte, die Sie in Ihrem Buch benennen, sind Orte der „Gastwelt“. Was verlieren wir, wenn Kneipen und Gasthäuser schließen, gerade in kleinen Städten und im ländlichen Raum?
Die Orte der Gastwelt sind wichtige Austausch- und Begegnungsorte. Im ländlichen Raum gilt das noch einmal mehr: Dort gibt es meist nicht 15 Kneipen, sondern ein oder zwei, ein Wirtshaus noch dazu, vielleicht ein Hotel. Gerade die Eck- oder Dorfkneipen mit moderaten Preisen ziehen viele Menschen an. Sie sind auch Orte sozialer Kontrolle, des Austauschs über die alltäglichen Belange. Vor allem sind es Orte, an denen man wenig muss, aber viel kann – ein Bier konsumieren, eine Apfelschorle trinken, reden oder Skat spielen, flirten oder träumen. So kommt ein Teil der Gesellschaft zwanglos zusammen.
In vielen Regionen übernehmen Bürgerinnen und Bürger Verantwortung, wenn Treffpunkte schließen, etwa durch Genossenschaften oder Initiativen. Was sagt uns dieses Engagement über den Stellenwert dieser Orte?
Viele Menschen wissen um die Bedeutung von Begegnungsorten. Sie bringen sich ein, oft unbürokratisch und voller Tatendrang, um das Schwimmbad offen zu halten, das Dorfgemeinschaftshaus zu renovieren oder Kneipe oder Dorfladen zu betreiben. Dabei sind sie kreativ: Häufig schaffen sie multifunktionale Orte, an denen mehr als eine Nutzung stattfindet. Ein Schwimmbad mit Sommerkino, Partys und Flohmarkt, eine Kneipe mit Altenstammtisch, der Dorfladen mit angeschlossenem Café und Seminarraum – das sind nur einige Beispiele, die existieren. Begegnung ist wichtig, und doch ist zivilgesellschaftliches Engagement oft prekär, hängt an Einzelpersonen oder Fördermitteln. Es zu stärken, ihm keine zu großen Hürden in den Weg zu legen, ist wichtig. Und ich glaube: Wir brauchen Allianzen zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, weil alle drei Akteure zusammen mehr können als jeder für sich allein.
Gibt es aktuelle Studien oder Zahlen, die zeigen, wie sich das Vorhandensein oder der Verlust sozialer Treffpunkte auf politische Beteiligung und gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirkt?
Studien zeigen, dass etwa ein geringerer Bustakt oder leerstehende Ladenzeilen sowie die wahrgenommene gebaute Umwelt auch Auswirkungen auf die Wahlergebnisse populistischer oder extremistischer Parteien haben. Je schlechter der öffentliche Raum in Schuss ist, je abgehängter man sich fühlt, je weniger leicht zugängliche Begegnungsorte bestehen, desto stärker sind deren Wahlergebnisse. Daraus lässt sich ableiten: Gesellschaft braucht Orte, an denen sie sich trifft und wahrnimmt, wenn auch nur ausschnittsweise. Und wie breit diese Orte vorhanden sind, wie gut ihr Zustand ist und wie zugänglich sie sind, macht einen Unterschied.
Wenn die Demokratie Begegnung braucht, was bedeutet das konkret für politische Entscheidungen? Welche Weichen müssten aus Ihrer Sicht gestellt werden, um solche Räume zu sichern oder neue zu schaffen?
Die Kommune als politische Einheit hat einen zentralen Stellenwert in der Gestaltung von Begegnungsorten. Sie dazu in die Lage zu versetzen, halte ich für wichtig. Das bedeutet nicht nur, sie finanziell gut auszustatten. Es bedeutet auch, ihr Abweichungen von rechtlichen Regelungen zu ermöglichen. In Frankreich etwa dürfen Bistros in kleineren Ortschaften ohne Schanklizenz öffnen, um dem Sterben der Dorfkneipen entgegenzuwirken. Wir brauchen solche einfachen Lösungen, flächendeckend, damit gerade auch in den weniger leistungsfähigen Landesteilen Orte der Begegnung erhalten bleiben. Das ist mehr als Bürokratieabbau: Es ist eine Stärkung unserer lokalen Demokratie dadurch, dass Menschen merken, dass sie vor Ort etwas bewegen können.
Förderprogramme setzen häufig auf wirtschaftliche Kriterien. Wie können wir den gesellschaftlichen Mehrwert sozialer Infrastruktur besser sichtbar und politisch wirksam machen?
Demokratie wird nie so gut messbar sein wie wirtschaftlicher Erfolg, dafür ist sie ein viel zu komplexes Unterfangen. Und gerade deshalb sollten wir, in Förderprogrammen und darüber hinaus, Menschen Vertrauen schenken. Die meisten Menschen nutzen Fördermittel sinnvoll, angepasst an lokale Begebenheiten und ohne eigene Vorteile herauszuschlagen. Zu detaillierte Regelungen helfen da nicht, sie verunmöglichen nur lokales Engagement. Darüber hinaus sollten wir uns als Gesellschaft bewusst machen, welchen Stellenwert unsere demokratischen Infrastrukturen haben. Dieser wird nie messbar sein, Teile werden im wirtschaftlichen Sinne immer defizitär bleiben – und doch basiert unser Zusammenleben darauf, dass Menschen zusammenkommen und gemeinsam gestalten.
Was macht Ihnen Hoffnung? Gibt es Regionen oder Initiativen, die zeigen, wie soziale Orte gezielt gestärkt werden, und was können wir davon lernen?
Hoffnung machen mir die vielen Menschen, die ich auf meinen Vortrags- und Lesereisen getroffen habe, die vor Ort Begegnung gestalten. Sie tun dies oft nicht für die große Demokratie, sondern weil ihnen das Zusammenleben wichtig ist: im Stadtteil, in der Nachbarschaft, auf dem Dorf. Sie bringen sich ein, weil sie Menschen zusammenbringen möchten, weil ein belebter Dorfkern, ein lebenswerter Stadtteil für sie Teil von Lebensqualität sind, weil sie die Anregung durch andere Menschen schätzen. Sie tun damit aber auch etwas für eine lebendige Demokratie. Diese Menschen sollten wir stärken und fördern, ihnen Möglichkeiten geben, anstatt ihnen Steine in den Weg zu legen.